Agnostos Theos

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Keyword: Agnostos Theos (unbekannter Gott)

Links: Agnosia, Gnosis, Gott, Gottesbild

Definition: Agnostos Theos, lat. unbekannter Gott.

Information: Der Verfasser der Apostelgeschichte (17, 23) lässt Paulus den Begriff "unbekannter Gott" in der nur hier berichteten Predigt auf dem Athener Areopag verwenden, und zwar ohne Artikel: "Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT (Agnóstotheô). Was ihr verehrt, ohne es zu kennen (agnoûntes, "<als nicht erkennende"), das verkünde ich euch". Die Verneinung der Erkenntnis (a-gnôsis) zeugt von einer Reflexionsstufe, die zu beträchtlicher Abstraktion fähig ist: Unabhängig vom kultischen Kontext objektiv vorhandener Heiligtümer wird mit einer Leerstelle des erkennenden Denkens gerechnet, mit einem Gott, den es zwar geben mag, der aber entweder noch nicht erkannt oder aber grundsätzlich unerkennbar ist.

Dies steht im Gegensatz zur esoterischen Strömung der Gnosis, die zur Zeit des Neuen Testamentes eine Art Geheimwissen im Sinne antiker Mysterien- (event-)Religionen versprach und die möglicherweise einen gewissen Einfluss auf das Johannesevangelium hatte.

Eine weitere Konsequenz des Konzeptes ist die Namenlosigkeit des unbekannter Gotts, die ihn von den Mitgliedern der antiken Götterfamilien unterscheidet. Diese Namenlosigkeit ist alttestamentlich-jüdisches Erbe. Denn der Name des Gottes Israels wurde mit so großem Respekt behandelt, dass er in der alltäglichen Sprache nicht ausgesprochen werden durfte, auch nicht in der religiösen Sprache. Die "Offenbarung" des Gottesnamens JHWH sollte kein besitzendes Wissen eines theologischen oder kultischen Begriffs ermöglichen, sondern Scheu und Unterscheidung von allen anderen Wörtern der Sprache.

Mit der der Namenslosigkeit hängt die Geschlechtslosigkeit (Transsexualität) des unbekannten Gottes zusammen: Es ist unbestimmt, ob es sich um einen Gott, eine Göttin oder aber um eine bisexuelle Gottheit handelt. Es ist also etwas Tieferes gemeint, als eine bloße Vertauschung oder Ersetzung von Gottesbildern, etwa die Ablösung eines matriarchalen Gottesbildes durch ein patriarchales. Der die Geschichte der Theologie kritisch begleitende Traditionsstrom der "negativen Theologie" möchte die Leerstelle des unbekannten Gottes offen halten, das erkenntnismäßige "Nichts" Gottes, das mit der Begrenztheit unserer Wissensmöglichkeiten und mit der Transzendenz Gottes gegeben ist. Dieser meist leise und oft verdächtigte Traditionsstrom beruft sich gern auf diese Stelle, besonders auf den in Vers 34 genannten Dionysios (den "Areopagiten"). Wichtige Vertreter der negativen Theologie sind Pseudo-Dionysios Areopagita und Meister Eckhart.

Im Gegensatz hierzu wird der "unbekannter Gott" seit der angegebenen Stelle in Apostelgeschichte 17, 23 immer wieder thematisiert: Er ist Gegenstand der Predigt (Verkündigung), der Kunst (vor allem Musik und Malerei), der Verehrung und – noch wichtiger – der spirituellen Suche. Allerdings berichten die folgenden Verse der Apostelgeschichte, dass Paulus mit seiner Predigt über Schöpfung und Auferstehung vor allem Spott und Hohn erntete, abgesehen von Dionysios und einer Zuhörerin namens Damaris. Möglicherweise handelt es sich um die Verarbeitung einer erfolglosen Predigt im Umkreis der Apostelgeschichte: Demnach lässt sich zwar nur eine Minderheit von der Thematisierung des unbekannter Gotts ansprechen. Das Gemeinte erweist sich dennoch durch die Jahrhunderte als erstaunlich überlebensfähig.

In heutiger Perspektive liegt es nahe, das Konzept des "unbekannter Gott"s im Licht des modernen Agnostizismus zu verstehen. Im Unterschied zum Atheismus, der (einer ironischen Bemerkung Heinrich Bölls zufolge) unentwegt von Gott redet, lässt der Agnostiker die Gottesfrage offen und akzeptiert die Begrenztheit unserer Wissens- und Erkenntnismöglichkeiten. Blaise Pascal versuchte deshalb nicht, einen derartigen Skeptiker zum Theisten zu 'bekehren'. Vielmehr empfahl er eine existenzielle "Wette" jenseits aller wissenschaftlichen oder philosophischen Positionen. Bemerkenswert sind Versuche, den unbekannten als den unbewussten Gott zu denken, z. B. bei V. Frankl und bei C. G. Jung, der in "Antwort auf Hiob" eine Bewusstwerdung des sich individuierenden Gottes nachzeichnet. Schließlich meint die theologische Kategorie des Geheimnisses nicht ein Rätsel, das durch Erkenntnis-Anstrengungen zu lösen wäre, sondern den unergründlichen Horizont unseres Wissens, Begehrens und Handelns. In den religiösen Begriffen und Einzelerfahrungen, so etwa Karl Rahners transzendentaler Ansatz, sind wir auf einen Grund verwiesen, den wir weder aussprechen noch "erkennen" können wie andere Gegenstände unseres Denkens.

Interpretation: Der skizzierte Absprung von üblichen Erkenntniskategorien des feststellenden Denkens lässt den "unbekannter Gott" als seelisches Symbol deutlich werden. In der analytischen Arbeit mit Träumen und religiösen oder "atheistischen" Biografien ermöglichen die Traditionen der Menschheitsreligionen einen amplifizierenden Umgang mit individuellen Inhalten, z. B. die Lösung von fixierten Gottesbegriffen in der buddhistisch inspirierten Meditation. Die positiven Dogmen, Traditionen und Rituale der jüdisch-christlichen Theologie helfen beim Verstehen der spirituellen, häufig religionskritischen Orientierung moderner Gott-Sucher. Die negativen Theologien helfen, den unbekannten, aber dennoch thematisierten Gott als innerpsychischen und kollektiven Altar zu schützen. Er macht zwar manche Prediger ratlos, hält aber die Erinnerung an eine unbeantwortete Frage offen.

Literatur: Standard

Autor: Frick, Eckhard