Kathedrale

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Keyword: Kathedrale

Links: Kirche, Kirche-Gebäude, Basilika, Kloster, Bauwerk, Kreuz, Mandala, Christus, Selbst, Opus magnum


Definition:

Der Begriff Kathedrale lässt sich von dem lateinischen cathedra (griechisch kathedra) „Sitz“ ableiten, und bezeichnet eine Kirche, die Sitz eines Bischofs ist. Die Bezeichnung Kathedrale ist in der katholischen, orthodoxen und anglikanischen Kirche ein kirchlicher Titel. Meistens sind diese Bischofskirchen besonders groß und aufwändig gebaut.


Information:

Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Kathedralen vor allem die großen Kirchen der Gotik, insbesondere in Frankreich.

Der Schriftsteller Marcel Proust wünscht sich im letzten Band seines 7-bändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, dass sein Werk eine Kathedrale sein wird, eine Kirche, „in der die Gläubigen nach und nach Wahrheiten entdecken und Harmonien, den großen Plan, der dem Ganzen zugrunde lag, erkennen würden“. Proust umschreibt hier offensichtlich mit dem Begriff der Kathedrale ein Meister- oder Lebenswerk, ein Opus magnum.

Proust bezieht seine Faszination für die Kathedralen aus Werken anderer Künstler, vor allem des Schriftstellers John Ruskin und des Malers Claude Monet, der 1892 -1894 achtundzwanzig Bilder von der Westfassade der Kathedrale von Rouen im unterschiedlichen Tageslicht malt.

Während die Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Kathedrale als einen Ort der Erinnerung verehren, Erinnerung an vergangene Zeiten kollektiven Glaubens, und aber auch Erinnerung an die Ganzheit jedes einzelnen Individuums, kehren einige Jahre später die Künstler des Bauhauses dieses Bild der Kathedrale um und sprechen von der funktionalen Kathedrale der Zukunft. Die Faszination, die der Begriff Kathedrale auslöst, scheint dabei ungebrochen.

In dem Film "Kathedralen der Kultur" aus dem Jahr 2014 beschreiben verschiedene Filmemacher 6 verschiedene Gebäude, die gesellschaftlichen Zwecken dienen: ein Konzerthaus, ein Opernhaus, ein Museum, eine Bibliothek, ein wissenschaftliches Institutsgebäude und ein Gefängnis. Hier beschreibt das Wort Kathedrale jeweils ein ganz besonderes Gebäude, ein Meisterwerk der Architektur - aber keine Kirche. In dem Film wird Jonas Salk, Gründer des Salk Instituts in Kalifornien, mit folgenden Worten über das 1959 gemeinsam mit dem Architekten Louis Kahn entwickelte und geplante Institutsgebäude zitiert:“ Innovative Wissenschaft entsteht dort, wo zwei Disziplinen sich berühren und ein Funke überspringt. An dieser Stelle können wir neues entdecken, etwas Neues über die Welt erfahren. Und dieses Gebäude fördert das Entstehen eines solchen Funkens.“. Hier wird das Gebäude, die "Kathedrale der Kultur", als Katalysator eines kreativen Prozesses verstanden.


Abb. Claude Monet, Kathedrale von Rouen (Das Portal und der Turm Staint-Romain bei strahlender Sonne, Harmonie in Blau und Gold) 1893, Musée d'Orsay, Quelle wikimedia commons



Interpretation:

Natürlich sind Kirchen – und besonders die Kathedralen als Bischofssitze - Ausdruck weltlichen und geistigen Machtstrebens. Aber ohne die schöpferische Kraft, die mit dem Numinosen in Verbindung steht und schon das Zukünftige ahnt, wären sie wohl nicht erbaut worden.

So wie aus tiefenpsychologischer Sicht der Abendmahlskelch und das Taufbecken als symbolische Wandlungsgefäße zu betrachten sind, so sind auch die Kirchen selber solche Gefäße der Wandlung. Symbole, die man nicht nur von außen und innen betrachten kann, sondern in die man sich selber „einlassen“ kann, die man betreten und wieder verlassen kann. Jede Kirche beherbergt auf diese Weise einen (potentiellen) Wandlungsprozess, gibt Raum für den Prozess einer Wandlung.

Gleichzeitig erscheinen die Kirchen von der ersten frühchristlichen Basilika bis zur Barockkirche in der Veränderung ihrer Gebäudeform als steinerne Manifestationen eines kollektiven Wandlungsprozesses. Der Baustil der Kirchen verändert sich so in seiner Form und Ausdrucksweise, dass hier im Lauf der Jahrhunderte durch die „Sprache“ des Gebäudes das Ritual einer Wandlung nachvollzogen wird: Zuerst öffnet sich ein schlichter, feierlicher Innenraum, in den man hineingehen kann, im Laufe der Zeit differenziert und ordnet sich dieser, er wächst und wölbt sich nach oben, strebt den Baustoff Stein bis zum Alleräußersten in Höhe und Weite, um dann langsam die große Ausweitung wieder zurückzunehmen, zu „vernarben“, bis auch die Verstrebungen verschwunden sind und ein einheitlicher glatter Innenraum von vollendeter Proportion entsteht. Dann beginnt sich der Raum zu wölben und das Innere nach außen zu kehren, als wollte er den Menschen der Außenwelt wieder zurückgeben.

Wenn man diesen Prozess mit dem von der Analytischen Psychologie beschriebenen schöpferischen Wandlungszyklus vergleicht, dann erscheint die gotische Kathedrale als Raum der größten Ausdehnung, der maximalen Auflösung des Baumaterials Stein, der intensivsten Hingabe an das Tageslicht - und die Nachtschwärze - und der größtmöglichen Resonanz. Die Begegnung mit dem Tranzendenten ist am äußersten Punkt angelangt. Die Kathedrale steht am Wendepunkt, am Punkt der Wandlung. Diese große Nähe zum Numinosen macht die Faszination der gotischen Kathedralen aus, sowohl als Erinnerung (an vergangene Schöpfungsprozesse) als auch als Vision in die Zukunft.

Pascal Mercier schreibt dazu in seinem Roman "Nachtzug nach Lissabon":„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.“


Literatur: Standard; Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk, die modernen Mythen der Kunst; Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon; Nikolaus Pevsner, Europäische Architektur; Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 7; Gottfried Richter, Ideen zur Kunstgeschichte; wikipedia

Autor: Ernst, Christine