Kairos

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Keyword: Kairos

Links: Synchronizität, Zeit

Definition: Dieser Begriff aus der griechischen Mythologie bedeutet "das rechte Maß", "der rechte Augenblick", "die goldene Mitte".

Information: Kairos wird auch als jüngster Sohn des griechischen Gottes Zeus beschrieben und er steht in Zusammenhang mit Hermes, dem Götterboten mit Flügeln auf seinen Schuhen, der die Seelen Verstorbener in die Unterwelt geleitet; mit Tyche, die "Treffen, Zufall, Schicksal, Glück und Unglück" bedeutet; sowie mit Nemesis, die "Zuweiserin, Vergelterin, Verhängnis, Rächerin" genannt wird. Aus dieser Verwandtschaft ist zu erkennen, dass es sich bei Kairos um einen Begriff und eine Erlebensweise handelt, die man möglichst nicht übersehen und schon gar nicht übergehen sollte. Kairos wird gezeichnet als eine Gestalt mit wehenden Haaren, die zu einem Schopf gebunden sind. Sein Kopf weist nach rechts, als eilt er in die Zukunft hinein und sein Haarschopf befindet sich noch auf der linken Seite. Es heißt, wenn Kairos vorüber eilt, muss man ihn blitzschnell am Schopf packen, sonst ist die Gelegenheit für eine anstehende Unternehmung oder eine wichtige Entscheidung für dieses Mal verpasst. Wer nicht rechtzeitig zufasst - eben Kairos am Schopf - hat das Nachsehen, hat seine Chancen für’s erste verspielt. Auf der anderen Seite darf man nicht eher ein Unternehmen starten, oder sich für etwas entscheiden, bis Kairos auftaucht. Wenn man ein Geschäft ohne Kairos macht, kann es sein, dass dieses schief geht. Das wäre dann das Werk von Nemesis, der Vergelterin.

Die Vorstellung eines Gottes der Zeit, bzw. des rechten Augenblicks gibt es auch in anderen Kulturen, z. B. in Indien: "[...] denn die Zeit "kocht" alle Dinge, wahrlich sie ist das große Selbst ! Derjenige, der weiß, in was die Zeit gekocht wird, der ist ein Kenner der Veden." Auch der Gott Shiva trug die Titel Maha Kala (große Zeit) oder Kala-Rudra (alles verzehrende Zeit), er symbolisierte die Energie des Universums. Die Personifikation von Shiva als Zeit wurde in Indien später noch durch ein anderes Bild dargestellt, durch Hypostasierung seiner aktivierenden Energie (shakti), als Göttin Kali (ein Wort, das die weibliche Form von Kala = Zeit bedeutet. Das Wort Kala ist wohl mit Recht etymologisch mit dem griechischen "Kairos" in Beziehung gesetzt und letzteres seinerseits mit "kairoo" = die Fäden eines Gewebes miteinander befestigen. Kairos wäre in diesem Sinne die "richtige Ordnung" in der Zeit. Die Assoziation vom Kairos zu einem Gewebe der Zeitgöttin weist auf die Idee eines "Feldes" hin, in welchem "Sinnverbindungen" sich wie Fäden zu einem Gewebe zusammen ordnen.

Interpretation: In der therapeutischen Situation kann sich Kairos z. B. folgendermaßen zeigen:

Eine Frau kam in die Therapie, weil sie sehr unglücklich in ihrer Ehe war und unter häufigen Asthmaanfällen litt. Aber sie machte sich die Entscheidung, ob sie in der Ehe bleiben oder gehen soll nicht leicht, denn sie hatte drei noch schulpflichtige Kinder. Sie meinte so lange in der Ehe bleiben zu müssen, bis die Kinder aus dem Haus sind. Eine andere Möglichkeit sah sie für sich nicht. Doch sie litt immer stärker.

An einem Sonntag Morgen nun entschloss sich die Frau, heute nicht wie gewohnt in die Kirche ihres Wohnbezirkes zu gehen, sondern eine andere Kirche aufzusuchen, die weiter weg lag, in die sie gelegentlich einmal ging. Sie war schon länger nicht mehr dort gewesen. In der Kirche sah sie in einer der Reihen gleich eine befreundete Frau sitzen, die sie auch schon länger nicht mehr gesehen hatte.

Nach dem Gottesdienst setzten die beiden sich noch auf eine Bank vor der Kirche und sprachen miteinander. Die Freundin meinte: "Wie wäre es, wenn du ausziehst? Wenn du dir eine Wohnung suchst, die so groß ist, dass dich dort deine Kinder jederzeit besuchen können? Wäre das eine Lösung für dich?"

Und plötzlich war alles klar. Sie wusste, genau das ist es, was sie tun muss. Auf einmal wurde ihr so leicht um's Herz, wie sie es seit langem nicht mehr gespürt hatte. Alle Zweifel verschwanden, Friede kehrte in ihr ein, sie war plötzlich wieder richtig glücklich.

Sie erlebte sehr eindrücklich, was Kairos ist, der richtige Augenblick der Entscheidung. Und sie hat ihn an seinem Schopf gepackt und gleich am nächsten Tag eine Annonce in die Zeitung gesetzt, dass sie eine Wohnung suche. Und tatsächlich fand sie auch gleich eine geeignete Wohnung, die in der Nähe des Hauses lag, in dem sie mit der Familie lebte. So konnten die Kinder sie jeden Tag nach der Schule besuchen oder auch bei ihr übernachten.

In diesem Fall hat der Geist in seiner Funktion als Kairos bewirkt, dass die Lösung, die im Unbewussten der Frau schon bereit lag, von ihr jedoch noch nicht wahrgenommen werden konnte, durch die Freundin hindurch - die persönlich nicht direkt betroffen war - in ihr Bewusstsein dringen konnte. Dass Kairos sie unbemerkt in die andere Kirche dirigierte, gehört natürlich zu seiner Aufgabe dazu.

Das heißt, es ist gerade für Therapeuten sehr wichtig, Kairos, den rechten Augenblick, zu beachten, sich also mit eigenen Ansichten zurückzuhalten und zu warten, bis Kairos erscheint. Dann allerdings muss man ihn auch am Schopf packen.

Kairos gehört also zum therapeutischen "Fingerspitzengefühl", zum Wissen, wann der rechte Zeitpunkt für eine Deutung oder auch einen Hinweis angebracht ist und wann nicht. Kairos macht sich immer bemerkbar: entweder durch ein äußeres Zeichen oder eine plötzliche innere Erkenntnis. Vorausgesetzt, man lässt ihm die nötige Zeit für sein Erscheinen.

Literatur: Standard

Autor: Seifert, Ang Lee