Schlaraffenland

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Keyword: Schlaraffenland

Links: Insel Bios-Prinzip, Mutter, große, Paradies, Regression

Definition: Sagenhaftes Land der üppig lebenden Müßiggänger und genusssüchtigen Faulpelze „slu (de) raffe“. Etymol. aus dem mittelhochdeutrschen von slur „faulenzen“ und „affe“ Tölpel.

Information: „Der Schlaraffe“ wird in Adelungs deutschem Wörterbuch (1780) missbilligend definiert, „ist eine Person, welche ihr Leben in einem hohen Grade des trägen Müßigganges zubringet, welche sich einer wollüstigen und üppigen Muße widmet.“ Seit dem 15. Jh. Fantasiebild für ein Märchenland mit üppiger Speise, ein orales Paradies, offenbar eine der Idealisierungen der "guten alten Zeit". „Schluraffen“ kennt schon Sebastian Brants „Narrenschiff“ (1494). Die Vorstellung vom „Schlauraffen-Landt“, wie Hans Sachs eines seiner Fastnachtsspiele nannte, verband sich mit der in Krisen und Hungersnöten geborenen Vorstellung vom Kuchenland. Schlaraffenlandähnlich wird in der altmexikanischen Tradition der Azteken das ältere Kernland der Tolteken, Tollan, geschildert: Maiskolben waren dort so schwer, dass sie über die Erde gerollt werden mussten und die Gemüsepflanzen so groß wie Palmen.

Die Lügenmäre „Aus der Affenzeit (14. Jh.) diente den Brüdern Grimm als Vorlage für das Märchen vom Schlauraffenland“ (1815) (Grimm KHM Nr. 158), das zunächst kein Schlemmerparadies war, sondern eine Aufreihung von Unmöglichkeiten der verkehrten Welt. Aus verschiedenen anderen Quellen wie Volksliedern und der franz. Fabel „Fablel de Cocaigne“ im 13. JH. fabulierte Ludwig Bechstein (1856) das „Märchen vom Schlaraffenland“ als oral- verwöhnendes, üppiges Paradies, in dem süßer Wein aus den Brunnen fließt, auf den Bäumen Semmeln wachsen, einem gebratene Tauben in den Mund fliegen und man sich durch eine berghohe Mauer von Reisbrei durchessen muss, um hinein- oder herauszugelangen. Belohnt wird süßes Nichtstun, Faulheit und Müßiggang mit dem Erlangen der Königswürde.

E. T. A. Hoffmann widmete dem Schlaraffenkand zwei Kapitel seines Nussknacker-Märchens. Heinrich Hoffmann von Fallersleben variierte die Idee vom Berg aus Reisbrei: „Nie gelangt ihr bis ans Thor. Denn es liegt ein ganzer Hügel, ganz von Pflaumenmus davor.“ Vom Schlaraffenlande 1853) „Schlaraffenland - Die Geschichte einer populären Fantasie“ hat der Germanist Dieter Richter (1984) beschrieben. Vor dem Leben im Schlaraffenland, einer Erziehung zum Konsumrausch, das alltäglich durch ein Überangebot an Nahrungsmitteln, Spielwaren und Luxusartikel für Kinder in der Konsumgesellschaft besteht und zu Überansprüchlichkeit, Abhängigkeit und Unselbständigkeit führt, warnen zunehmend Soziologen und Erziehungswissenschaftler.

Interpretation: Ähnlich wie bei der Sehnsucht nach dem Paradies und dem Wunsch nach der Insel ist die Fantasie ins Schlaraffenland zu gelangen mit der Sehnsucht verbunden nach einer oral-verwöhnenden, mütterlichen Welt, in der keine Gegenleistung verlangt wird. Es stellt sich die Assoziation ein, dass im Schlaraffenland Wünsche nach „oraler“ Sättigung und emotionaler Versorgung wie in der frühen Mutter-Kind-Beziehung (Einheitswirklichkeit) oder im Mutterleib (Regression) umfassend erfüllt werden. Das Schlaraffenland kann in psychoanalytischer Terminologie humorvoll als „Traumland der oral Fixierten“ verstanden werden.

In kritischer Hinterfragung solcher Fixierungen und regressiver Tendenzen (Regression), die im ungünstigsten Fall zu Bequemlichkeitsstrukturen und zur späteren Sucht in den verschiedensten Ausformungen führen können, müssen im Motiv der gebratenen Tauben, die einem in den Mund fliegen (Verstanden als Überangebot unserer Konsumgesellschaft), wie auch im Berg aus Reisbrei, durch den man sich durchessen muss, Aspekte von erstickender, festhaltender, verwöhnender Mütterlichkeit verstanden werden, die als Hexe wie im Märchen von „Hänsel und Gretel“ (Grimm KHM Nr. 15) die Kinder durch ihr Knusperhaus anlockt, gefangen nimmt und verschlingen will und von der man sich befreien muss, um zur Autonomie zu gelangen.

Literatur: Standard

Autor: Kuptz-Klimpel, Annette