Verschlingen

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Keyword: Verschlingen

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Definition: Das Verschlingen (etymologisch: „vel“ indogerm. = umschlingen, umringen) oder Verschlungenwerden von Tieren wie Löwe, Schlange, Drache, großem Fisch (Wal) oder großen Gestalten (Riesen, Götter, Mutter, Vater) ist ein weit verbreitetes archetypisches Motiv, das sich in Mythen oder Märchen in verschiedener kulturtypischer Prägung zu allen Zeiten auf der ganzen Welt manifestiert hat. Weitere Tiere, die mit dem Motiv des Verschlingens in Verbindung gebracht worden sind: Wildschwein (Neuguinea), Wolf (Germanen), Fisch und Tiger (Ostasien) und Jaguar (Amerika).

Information: Keine.

Interpretation: In dem Motiv des Verschlingens haben sich seit frühester Zeit menschliche Erfahrungen mit den lebensspendenden und lebennehmenden, janusköpfigen, polaren Aspekte des Lebens und der Natur niedergeschlagen. Die biblische Geschichte des Jona, der vom Walfisch (Wal) verschlungen wurde und nach dreitägigem Aufenthalt im Bauch wieder ausgespieen wurde, ist die in unserem Kulturkreis bekannteste Ausprägung des archetypischen Bildes. Das Motiv des Verschlungenwerdens ist Teil des Archetyps der Nachtmeerfahrt des Sonnenhelden, die nach Frobenius auch „Walfischdrachenmythen“ genannt werden: Das Urbild aller mythischen Vorbilder ist die Sonne, die aufsteigt und untergeht (verschlungen wird, stirbt), die das nächtliche Totenreich durchquert und wieder aufgeht (ausgespien wird, aufersteht), die immer wieder in den mütterlichen Schoß der Erde oder des Meeres eingeht, um ihre Lebenskräfte zu erneuern und aus ihm wiedergeboren zu werden. Verwandt mit dem Jonasmotiv ist eine große Zahl von Mythen und Sagen, bei denen sich der Held durch Kampf vor dem Verschlungenwerden oder aus dem Bauch des Ungeheuers (Drache, Monster) befreit.

In der jüd. Legende „Vom Levjathan“ wird ebenfalls von der Verschlingung eines Jünglings erst durch einen Fisch, dann durch den Levjathan selbst erzählt. Der Gang in die Tiefe offenbart geheimes Wissen und durch dieses geheime Wissen findet er die schwer zu erreichende Kostbarkeit. Zum Schlangensymbol, als Urerfahrung der Menschheit, gehört ebenfalls der polare Aspekt: Die Urschlange ist einerseits verschlingende Urkraft, andererseits bringt sie Schöpferisches hervor. Immer beinhaltet sie beide Phänomene: Leben und Tod, Gebären und Verschlingen, Vulva und Maul.

Tiamat, deren aufgerissener Rachen Marduk, den Sonnenhelden verschlingen will, ist aber nicht nur das Böse, sondern auch der gebärende Höhlen-Schoß des Großen Weiblichen. „La Tarasque“ z. B. ist ein Drachenungeheuer, das in den Sümpfen der unteren Rhone hauste. Die heute noch erhaltene keltische Statue aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. zeigt ein beschupptes Ungeheuer, das Menschen verschlingt.

Der keltische Kessel von Gundestrup zeigt eine doppelköpfige Schlange, deren 2 Mäuler je einen Mann verschlingen. Die verschlingende Schlange bedeutet auch das Weltende, den Weltuntergang. Der ägyptische Schöpfergott Atum stieg als Urschlange am Anfang der Zeiten aus dem Ozean, löste am Ende der Zeiten alles wieder auf und kehrte allein ins Urwasser zurück. An den Wurzeln der Weltesche Yggdrasil nagt der Drache Nidhögg, bis am Ende der Zeiten die Esche entwurzelt fällt, Welt und Sterne in den Ozean versinken und die nächste Götterdämmerung heraufzieht. Die mexikanische Göttermutter Coatlicue, „die mit dem Schlangenrock“, verkörpert die Leben nehmende Seite der Mutter Erde, die alle Lebewesen beim Tod und alle Gestirne beim Untergang verschlingt. Auch der Tod Einzelner wurde mit dem Bild des Verschwindens im Schlund des Urdrachens oder dem Vereintwerden mit der Urschlange verbunden.

Im „Maui-Mythos“ (der Maoris, Neuseeland) lauert die Ahnin mit menschenähnlichem Aussehen, mit rötlich funkelnden Augen, scharfen Zähnen und einem fürchterlichen zahnbewehrten Mund, in die der Held Maui unbemerkt hineinkriechen soll, jedoch von ihr als Göttin des Todes verschlungen wird.

Das Motiv des Verschlungenwerdens spielt als Wandlung oder Übergang von einer Seinsstufe zur anderen z. B. in Initiationsriten eine wichtige Rolle, in der der junge Mensch z. B. von einem Krokodil verschlungen, jedoch in einer höheren Existenzstufe (als Wasserschlange) wiedergeboren wird (Borneo). Das Ziel der Initiation ist meist die Wiedergeburt und Aufnahme der Initiierten in die Gemeinschaft der Erwachsenen, was oft durch die verschlingende, später wieder ausspeiende Urschlange oder Ungeheuer symbolisiert wird.

Im griechischen Mythos des Ödipus wurden diejenigen Jünglinge der Stadt Theben von der Sphinx, einem Mischwesen aus Menschenkopf, Löwenkörper und Adlerflügeln verschlungen, die ihr Rätsel nicht lösen konnten. Das Motiv des Löwen, der die Sonne frisst (Rosarium philosophorum 1550), einer Vorstellung aus der Alchemie, bedeutet, dass im Individuationsprozess vorübergehend die vorherrschende Bewusstseinshaltung (Symbol der Sonne) zugunsten der Wahrnehmung und Belebung unbewusster, instinktiver Kräfte (z. B. bisher verdrängter Triebe und Affekte wie Gier, Eifersucht, Neid, Wut und Egoismus) aufgegeben werden muss.

Nach Erich Neumann gehört das Verschlungenwerden zum negativen Pol des Wandlungscharakters des großen Mütterlich / Weiblichen. Die Angst vor dem Weiblichen äußert sich auch vor der Angst vor verschiedenen Körperteilen: der Mund kann als zerreißend-verschlingendes Symbol der Aggression erlebt werden, der Bauch, als Reich der Unterwelt oder Schoß der Erde, der mit der Nähe zur Gefäßsymbolik gefangennehmen und unfrei machen kann, die Vagina, die als Vagina dentata kastrieren und festhalten kann.

Alle Einweihungen sogen. primitiver Völker, ebenso wie die des Totenbuches in Ägypten, des tibetanischen Totenbuches, der Mysterienkulte, des magischen Zaubers der Gnosis und der Sakramente der Religion wollen dem Individuum den Schutz bewahren, der auflösenden Grabesmacht des verschlingenden Weiblichen gegenüber gefeit zu sein. Das Weibliche kann als Grab, Unterwelt, Hölle, Schicksal, Ungeheuer, Hexe, Schlange oder Finsternis dem Menschen entgegentreten „Tod ist in jedem Fall Auslöschung des Individuums und des Bewusstseins als des Lichtes, Überleben aber ist, sich der Finsternis gegenüber als zur Lichtwelt zugehörig zu erweisen.“ (Erich Neumann, 1956, S. 172)

Das archetypische Motiv des Verschlungenwerdens hat sich zahlreich in Märchenmotiven verschiedenster Völker niedergeschlagen. Für den europäischen Raum sollen hier vor allem die Märchen von „Verschlingdämonen“ (Vergl. Scherf: „Das Märchenlexikon“) genannt werden, deren bekannteste und vor allem bei Kindern beliebte Varianten „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ (KHM 5), „Hänsel und Gretel“ und das englische Volksmärchen „Die Geschichte von den drei kleinen Schweinchen“ (Briggs, Michaelis (1970) „Englische Volksmärchen“) sind. Hexe und Wolf können jeweils als Aspekte des polaren Mütterlichen verstanden werden, z. B. erstickende, festhaltende, verwöhnende Mütterlichkeit bei „Hänsel und Gretel“ (Grimm KHM15), die die Kinder zum Fressen gern hat, als Hexe die Kinder durch ihr Knusperhaus anlockt, gefangen nimmt und verschlingen will und von der man sich befreien muss, um zur Autonomie zu gelangen.

Die russische Hexe Babaja kann sich in eine Sau verwandeln, um die Brüder des Helden zu verschlingen („Sturmrecke Ivan Kuhsohn“ in Scherf, W. (1995), Bd. II, S. 1162)

Das Verschlingen in Märchen kann äußerst vielfältige Erscheinungsformen annehmen, wie z. B. die Unterwelt zur Strudelhöhle Fafà “ (Hambruch (1979): „Südseemärchen“, Diederichs), oder wie bei v. Beit (Registerband S. 237) aufgeführt, wie z. B. Meer, Flut, Berg, Erde, Sumpf, Teufel, Monstrum, Lamia, verschlingender Rachen, verschlingende Sonne, Raben-Mann und Schlangenkönig. Eine zeitgemäße Variante, in der das Motiv der Angst vor dem Verschlingen und dem Verschlungenwerden (samt Gefangenschaft und Befreiung des Helden) dargestellt wird, mit dem sich Kinder und Jugendliche besonders identifizieren können ist der Animations-Film: „Findet Nemo“ (Disney / Pixar 2003): Dem Clownfisch Marlin fährt der Schreck gehörig in die Gräten, als sein vorwitziger Sohn Nemo gefishnappt wird. Auf der Suche nach seinem Sohn lässt er sich weder von einer Selbsthilfegruppe pseudovegetarischer Haie, noch von dem Verschlucktwerden im Bauch eines Wals abbringen und wird schließlich im Aquarium eines Zahnarztes in Sydney fündig, indem Nemo gefangen gehalten ist. Das Verschlingungsmotiv stellt sich in der Ursprungssituation der Bewusstseinsentwicklung (nach E. Neumann) im Archetyp des Uroboros dar, als Sehnsucht des unentwickelten Ich, im Uroboros zu bleiben und darin aufzugehen („uroborischen Inzest“). Diesem Stadium ordnet Neumann auch die „nihilistisch-uroborische“ Mystik zu, in der sich die Sehnsucht ausdrückt, in einen mütterlichen Schoß zurückzukehren, um im göttlichen Schoß des Nichts selig nicht vorhanden zu sein. Sie ist nihilistisch, weil sie Welt, Mensch, Ich und Bewusstsein verneint.

Im nächsten Stadium, im Archetyp des Drachenkampfes, spielt das Verschlingens- und Wiedergeburtsmotiv eine bedeutende Rolle. Der Held, als das sich entwickelnde Ich, gerät immer wieder in die Gefahr, vom Unbewussten verschluckt zu werden. Das Symbol des Verschlingens kann somit auch als Abstieg ins Unbewusste (Regression) verstanden werden, der immer gefährlich ist, jedoch auch als Übergang oder Initiation letztendlich die Wiedergeburt oder Neuausrichtung zum Inhalt hat. „Man steigt in den Bauch des Ungeheuers hinab, um Wissen und Weisheit zu lernen“ (M. Eliade (1961) „Mythen, Träume und Mysterien“). Der Eingeweihte ist nicht nur ein Neugeborener: „Er ist ein Wissender, er kennt die Mysterien, ihm sind metaphysische Offenbarungen zuteil geworden“. Meist ist mit dem Motiv des Verschlungenwerdens, wie auch dem Hinuntergehen in eine dunkle Höhle ein Wandlungsprozess verbunden, gelegentlich auch das Bergen oder Hervorbringen eines wertvollen Schatzes. Im Motiv des Verschlungenwerdens des Lichtes, der Sonne, des Mondes oder des Helden durch die Finsternis, die als Nacht, Abgrund, Hölle, Ungeheuer usw. auftritt in Träumen oder Imagination, kann sich eine Depression oder depressive Verstimmung darstellen, die immer mit der Stauung der psychischen Energie, der Libido verbunden ist. Psychologisch handelt es sich um den Einbruch des Archetyps der furchtbaren, verschlingenden Mutter, „dessen psychische Attraktion kraft ihrer energetischen Ladung so groß ist, dass ihr die Ladung des Ich-Komplexes nicht gewachsen ist, so dass er absinkt“ (Steffens S. 90) und wieder ins Unbewusste zurücksinkt. Traumbilder, in denen man gefährdet ist, oder die Angst, von wilden Tieren verschlungen zu werden (wie Tiger, Wolf, Schlange etc.) kann aber auch bedeuten, sich der Energie, den Schatten- oder Triebaspekten, die mit diesem Tier verbunden werden, anzunähern. 4.) Das Motiv des Verschlingens und der Angst vor dem Verschlungenwerden konstelliert sich in Psychotherapien häufig in Zusammenhang mit einem negativen Mutterkomplex. Neben Darstellungen von Sandbildern und Spielszenen bieten nachfolgend aufgeführte Gesellschaftsspiele in analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapien die Möglichkeit, diese Thematik in die Darstellung zu bringen, passive Erfahrung in aktive Handlung umzusetzen und lustvoll zu bearbeiten, wie z. B. „Atlantis“-Parker, „Ciao, ciao - wer überquert den Sumpf mit den fleischfressenden Pflanzen“- Drei Magier-Verlag, „Die guten und die bösen Geister“ Drei Magier-Verlag, „Hugo Schlossgespenst“ und „Geisterstunde“ Ravensburger, „Drachenland“ Ravensburger, „Schokohexe“ und „Spitz pass auf“ Ravensburger.

Literatur: Standard

Autor: Kuptz-Klimpel, Annette