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'''Keyword:''' Zehn
'''Keyword:''' Zerstückelung


'''Links:''' [[Ganzheit]], [[Logos-Prinzip]], [[Zahl]]
'''Links:''' [[Alchemie]], [[Axt]], [[Messer]], [[Nigredo]], [[Schamanismus]], [[Solutio]], [[Tod]]


'''Definition:''' Die Zehn besitzt die Teiler 1, 2, 5 und 10. Aus arithmetischer Sicht ist sie damit echt teilbar und stellt die fünfte gerade natürliche Zahl dar. Die 10 ist die Basis des Dezimalsystems, das möglicherweise auf die Zahl der zehn menschlichen Finger zurückgeht. Die indogermanische Bedeutung (althochdeutsch "zehan") dürfte, ähnlich wie lateinisch "decem", mit zwei Hände zu deuten sein.
'''Definition:''' Zerstückeln, zerstören, auflösen, trennen, entzweien, auseinanderreißen, lat. Dis. In Dantes göttlicher Komödie ist Dis die Verkörperung des Satans, der die Körper in der Unterwelt in Stücke zerhackt.


'''Information:''' Keine
'''Information:''' Das Zerstückelungsmotiv ist zentraler Bestandteil von Schöpfungsmythen in Babylonien, bei den Azteken, in der nordischen, chinesischen und indianischen Mythologie. Viele Kosmogonien der Welt entstehen aus den zerstückelten Körperteilen eines Tieres oder Riesen, oder einer Gottheit. Bei den Azteken wird die Erdgottheit Coatlicue zerstückelt und ihre beiden Hälften bilden den Himmel und die Erde, ihre Augen und ihr Mund werden zu Höhlen und Quellen. Rituelle Zerstückelung und das anschließende Essen des Zerstückelten gehört zum aztekischen Ritus, es wird der zerstückelte Gottesleib gegessen. In der hinduistischen Rigveda wird der 1000köpfige und 1000füßige Urmensch geopfert und aus seinem Geist entstand der Mond, aus den Augen die Sonne, aus dem Mund das Feuer und aus dem Atem der Wind.


'''Interpretation:'''  
'''Interpretation:''' Das Zerstückelungsmotiv ist mit dem Motiv des Opfers verbunden und gehört in den Raum der Todes- und Wiedergeburtssymbolik. Bevor etwas reintegriert und ganzheitlich zusammengefügt werden kann, bedarf es der Zerstörung und Zerstückelung, die Todeserfahrung geht jeder Wiedergeburt voraus, Desintegration ist unumgänglich für Reintegration, wie die Schöpfungsmythen deutlich machen. Im finnischen Epos der Kalevala wird Lemmikäinen zerstückelt und in den Totenfluss geworfen, von seiner Mutter wieder zusammengesetzt und in ihrem Schoß belebt. Der Gott Osiris wird von Set in 14 Teile zerstückelt und in alle Winde zerstreut. Isis sucht nach den Teilen, findet alle bis auf den Phallus und fügt sie liebend wieder zusammen, belebt das Getötete durch Zusammensetzen und empfängt Horus von ihm. Der Phallus des hinduistischen großen Gottes Mahadera wurde von Priesterinnen der Großen Göttin abgeschnitten und in Stücke gehauen. Die Teile kamen in die Erde und brachten eine neue Menschenrasse hervor, die Lingagas (Männer des Lingam).
Vor- und Frühgeschichte: Vergleichende kulturgeschichtliche Forschungen legen nahe, dass die Zehn immer dann symbolische Bedeutung bekam, wenn Kulturen mit Sonnen- und Mondgottheiten in Kontakt zueinander traten.


Alter Orient: In China existiert ein Sechzigerzyklus, der bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. bekannt war und bis heute zum Zählen der Tage und Jahre des traditionellen Kalenders verwendet wird. Die sechzig Kombinationen entstehen dadurch, dass eine Serie von zehn Zeichen (zehn Stämme genannt) mit einer von zwölf (zwölf Zweige genannt) fortlaufend verbunden wird, bis nach den sechzig möglichen Zweieranordnungen der Zyklus von vorne beginnt (siehe [[Zwölf]]. Die Etymologie der zehn Stämme in ihrer Funktion als Zählzeichen ist bisher unbekannt. - Die buddhistischen Lehrreden zeigen sehr ausgeprägt die altindische Tendenz, Begriffe in Zahlengruppen zusammenzufassen. Ein wichtiges Beispiel zur Zehn sind die Fragen des Novizen im Khuddakapatha, die die zehn Eigenschaften betreffen, die ein Heiliger aufweist, der des Nirvana teilhaftig wird.
In der mexikanischen Mythologie schuf die Erlöser-Gottheit Quetzalcoatl neue Menschen, indem er sein Glied abschnitt und das Blut der Herrin des Schlangenschurzes zu trinken gab. Die Gestalt dieser Göttin wird oft dargestellt mit vielen abgeschnittenen Gliedern, die an ihrer Hüfte hängen, z. B. Anath, die Herrscherin über Leben und Tod. Das Zerstückelungsmotiv hat auch Verbindung zu den Kastrationsmythen im Attis-Kybele-Kult. Die Riten der Selbstkastration sind bei den Priestern und Priesterinnen der magna mater, der Großen Mutter ein Teil der Göttinnenverehrung. Während Männer sich den Penis abschnitten und der Göttin opferten, zerstückelten Frauen sich, indem sie eine Brust abtrennten.


Antike: Da sich die Zehn als Dreieckszahl figurieren lässt, galt sie im Pythagoreismus als männlich. Zudem ist sie die Summe der ersten vier natürlichen Zahlen (10 = 1+2+3+4). Als 10=1+2+3+4 umfasste sie außerdem die Bedeutungen von 1, 2, 3 und 4. Wegen dieser Eigenschaften galt die Zehn den Pythagoreern als vollkommenste Zahl und wurde ihnen zur heiligen Vierheit (Tetraktys), auf die sie bei der Aufnahme in den Bund einen Eid abzulegen hatten. - Im ursprünglichen Platonismus bezog man die Zehn auf Proportionen, die auf Zahlenbeziehungen der fünf regelmäßigen oder kosmischen Körper beruhten (z. B.: 2:3:4 = ...  = 10:15:20 = ... oder 3:4:6:10 =...  = 15:20:30:50 =..., [[Sechs]] und [[Zwölf]]). Sicher war auch nicht bedeutungslos, dass beim Achtflächner (Oktaeder) an jede der 6 Ecken immer 4 gleiche Seitenflächen grenzen. Der spekulative Neoplatonismus hingegen griff verstärkt auf die pythagoreische Zahlensymbolik zurück, ließ aber deren mathematischen Gehalt und Hintergrund weitgehend außer Acht. - Als geometrische Darstellung der Zehn gebrauchte man in der Antike das regelmäßige Zehneck. Dabei maßen die Anhänger pythagoreischer und platonischer Auffassungen der Tatsache große Wichtigkeit zu, dass dessen Seitenlänge der größere Abschnitt des nach dem Goldenen Schnitt geteilten Umkreisradius ist. Das Dekagon wurde aber oft zum Zehnstern (Dekagramm) abgewandelt.
Zagreus-Dionysos wird zuerst von den Titanen in Stücke zerrissen und bis auf das Herz verschlungen. Zeus findet das Herz und lässt daraus Dionysos neu erstehen. Zerreißen und Zerstückeln auch durch die Mänaden in orgiastischen, dionysischen Ritualen, " omophagia", in denen das rohe Fleisch der zerstückelten Opfer verschlungen wurde im Gedenken an Dionysos, der auch den Beinamen hat" Fresser des rohen Fleisches". Zum Dionysoskult gehört die Zerstückelung und das Zerfleischen der Opfertiere. Die Tiere verkörpern den von den Titanen zerrissenen Dionysos-Zagreus aus dessen Zerstückelung der Gott Dionysos hervorgeht. Jäger, die Tiere lebend fangen um sie rituell zu opfern und deren rohes Fleisch zu essen, werden im griechischen zagreus genannt. Diese Riten sind Reinszenierungen der Verschlingung von Dionysos und verkörpern symbolisch die mystische Einheit mit dem Gott, die mystische Teilhabe an der göttlichen Potenz, die Integration von Dionysos.


Monotheistische Religionen: Im Alten Testament wurde Gottes Verhältnis zum erwählten Volk, das durch Zuwendung und Forderung gekennzeichnet ist, mit der Zehn in Verbindung gebracht. Das alphabetische hebräische Ziffernsystem drückte sie durch den zehnten Buchstaben Jod aus. Mit diesem Zuordnungsprinzip bestimmten rabbinische Gelehrte lange vor der Zeit der Kabbalisten und ihrer Gematria systematisch den Zahlenwert von Worten und brachten dann solche mit gleicher Quersumme inhaltlich in Verbindung. - Im christlichen Verständnis wurde die Zehn zum Hinweis auf ein vollkommenes Ganzes. In dieser symbolischen Deutung verschmolzen die Zehn Gebote als Gesetz des Alten Bundes mit den entsprechenden pythagoreisch-neoplatonischen Vorstellungen. Von den aus der Zehn durch Multiplikation hergeleiteten christlichen Symbolzahlen standen die 40 für Prüfung und Versuchung, die 50 für Freude, die 100 für Fülle und Reichtum im Geiste und schließlich die 1000 für Ewigkeit. Nur in der Apokalypse, die das Neue Testament abschließt, bekam die Zehn im Christentum eine ungünstige Bedeutung durch die zehn Hörner des Tieres, auf dem die babylonische Buhlerin reitet. - Im Islam wurde die Zehn dem zehnten arabischen Buchstaben Ja zugeordnet, der Gott als Jassin, d. h. als Befehlshaber kennzeichnet. Seine mystischen Richtungen praktizieren seit ihrer Entstehung ein von der rabbinischen Zahlenspekulation angeregtes Verfahren, das als Hisabal Dschumal - Errechnen der Summe - bezeichnet wird.
Das Motiv des Opfers, des Leidens und der Zerstückelung und Wiederauferstehung im christlichen Kontext ist der gekreuzigte Jesus. Bei der Kreuzigung findet eine innere Zerstückelung statt, die Knochen zerbrechen, die Bänder zerreißen, die Glieder werden durch die Nägel zerteilt. Die Transformation in der Auferstehung wird im Symbol der Messe als mystische Teilhabe am göttlichen Geist und Wesen durch Einverleibung seines Leibes (Brot) und seines Blutes (Wein) reinszeniert. Auch die Reliquienvereehrung von Heiligen und Märtyrern steht im Kontext einer [[participation]] mystique, in denen das Teil für das Ganze steht. Zerstückelte Körperteile verkörpern als Reliquien das Paradox von Tod und Leben, von Vergänglichkeit und ewiger Präsenz, sowohl im christlichen als auch im buddhistischen Kontext.


Hermetische Überlieferung: Seit dem Hochmittelalter wird ein Zusammenhang des zehnten Himmelshauses des Horoskops mit dem Beruf und der gesellschaftlichen Stellung angenommen.
Zerstückelung als Opfer der Erneuerung wird auch im Motiv des rituellen Königsmordes sichtbar und steht in Zusammenhang mit den Fruchtbarkeitsriten der Großen Mutter, in denen die blutige Zerstückelung des Königs die Fruchtbarkeit der Erde garantierte. Tötung, Opfer und Zerstückelung sind magische Instrumente der Fruchtbarkeit. Der König opfert auch sich selbst, zerstückelt seinen Körper mit einem Messer, schneidet sich seine Glieder ab und tötet sich im rituellen Akt der Erneuerung, z. B. in südindischen alten Riten.


Mathematik, Naturwissenschaften und Technik: Philolaos schuf ein pythagoreisches System der Astronomie, in dem ein Zentralfeuer durch Erde, Mond, Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn umkreist wurde. Seine Ideen waren insofern neu und richtungsweisend, da er die Erde unter die Planeten einordnete, deren Reihenfolge im wesentlichen richtig angab, sie wahrscheinlich als sich bewegende Kugeln auffasste und meinte, dass ihre Entfernungen durch mathematische Proportionen geregelt seien. (Nach den akustischen Theorien der Pythagoreer sollten dadurch die Sphärenharmonien hervorgerufen werden.) Dass Philolaos auch Sonne und Mond zu den Wandelsternen rechnete, entsprach hingegen den akzeptierten Vorstellungen der Zeit. Um insgesamt auf die heilige Zehnzahl seiner Bruderschaft zu kommen, postulierte er eine Gegenerde, die weder sichtbar noch durch ihre Wirkungen auffindbar sein sollte. Ungeachtet aller spekulativen Züge wurde dieses Bild des Kosmos, der harmonisch-schönen Weltordnung also, Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Vorstellungen zum Aufbau des Weltalls. Noch 2000 Jahre später berief sich Nikolaus Kopernikus mit Stolz auf die Pythagoreer als seine Lehrmeister und das heliozentrische System wurde zunächst als Astronomia Philolaica bezeichnet.
Zerstückelung ist auch ein zentraler Bestandteil der Initiationsriten. Die schamanische Initiation der Medizinmänner kennt Zerstückelung, Leiden und Krankheit als eine Art Vorbedingung, um heilerisch zu wirken. In der Unterwelt wird der Körper der Initianten von den Ahnengeistern oder den Dämonen in Stücke zerhackt und die Teile werden den Krankheitsgeistern zum Fraß vorgeworfen, denn ein Schamane kann nur Krankheiten heilen, die durch Geister bewirkt sind, wenn diese von seinem Fleisch gegessen haben. Die Glieder werden zerteilt, die Knochen gewaschen, die Augen aus den Augenhöhlen herausgerissen in einem Akt heiliger Zerstückelung, der mit großem Leiden verbunden ist. Darnach werden die Teile wieder zusammengesetzt, Krankheit und Tod überwunden.


Gegenwartssprache und Redewendungen: In der deutschen Gegenwartssprache tritt die Zehn in folgenden Redewendungen auf: jemanden etwas zehnmal (also oftmals) erklären, sagen, ...; nicht bis zehn zählen können (also geistig zurückgeblieben sein); Mahlers Zehnte geben (also Mahlers 10. Sinfonie aufführen); die zehnte Muse bevorzugen (also das Kabarett den anderen Kunstformen vorziehen). Ferner erscheint die Zehn in der Wortbildung Zehnkampf. Damit wird ein aus zehn Einzeldisziplinen bestehender Wettkampf der Leichtathleten bezeichnet, bei dem jeweils fünf an zwei aufeinander folgenden Tagen durchgeführt werden.
Die weit verbreitete Initiationszerstückelung steht in allen Riten für die Ganzwerdung durch das Opfer, für Zerstörung und Leiden im Dienste des Werdens und der Heilung. Die Neophyten werden zerstückelt als Vorbedingung für das Einwohnen des reinen Geistes, bei den River-Patwin-Indianern, in Sibirien, auf Malekula und bei den australischen Medizinmännern.
In den Zusammenhang mit der Zehn gehören auch das Substantiv Dezimation und das Verb dezimieren. Beide leiten sich vom römischen Rechtsbrauch ab, nach einer niedergeschlagenen Meuterei einer Truppeneinheit jeden zehnten Mann mit dem Tode zu bestrafen. Die Dezimation wurde in Europa zuletzt im Dreißigjährigen Krieg systematisch ausgeübt, so dass beide Worte heute in übertragener Bedeutung zur Bezeichnung der starken Verminderung einer Anzahl oder eines Bestandes verwendet werden. Ebenfalls an einen Rechtsbrauch erinnert das Substantiv Zehnt. Es war die seit dem 5./6. Jahrhundert von der Kirche geforderte und mit dem Pentateuch begründete Vermögensabgabe der Laien zum Unterhalt des Klerus, die meist jährlich zu erbringen war und in der Regel aus dem zehnten Teil der Erträgnisse bestand, die auf einem Grundstück gewonnen wurden. Im deutschen Staatenbund hob man den Zehnt bis 1850 auf und ersetzte ihn durch die noch heute übliche Kirchensteuer.


Tiefenpsychologie: Die Zehn für sich allein und als ganzes sowie ihre geometrischen Entsprechungen Dekagon und Dekagramm symbolisieren in der Regel Vollständigkeit - wohl in Analogie zur Gesamtheit der zehn Finger. Tritt dagegen die Zehn in Verbindung mit der Fünf oder irgendwie in einer Zweiergruppierung auf, dann kann sie auf Ehe, Partnerschaft oder allgemein auf eine emotionsbehaftete Zweierbeziehung verweisen.
In Märchen ist Zerstückelung als Zerstückelung des Drachen ein häufiges Motiv, aber auch als Abschneiden und verstümmeln: das Mädchen ohne Hände, Aschenputtel, und die Wiederbelebung des Zerstückelten in: Machandelboom, Bruder Lustig, Fitchers Vogel. In den germanischen Sagen häufiges Motiv wiederbelebter zerstückelter Fische, Böcke, Widder, Vögel. Oft fehlt dem zusammengesetzen Zerstückelten ein Glied, was auf die Kastration deutet. Kriminologisch ist auffällig, dass Serienmörder und sexuell motivierte Mörder die Leiche häufig zerstückeln und kastrieren. Moderne Varianten des Dionysoskultes, mit Opferung, rituellem Verzehren, kannibalistischem Einverleiben der zerstückelten Glieder des Opfers, vor laufender Videokamera im Internet. Im Krieg in Vietnam und Ex-Jugoslawien wurden den Feinden die Hoden abgebissen, der Penis abgeschnitten und dem toten Körper in den Mund gesteckt. In diesen demütigenden Kriegspraktiken scheint eine archetypische Dimension auf, die mit Angst, Macht und Zerstörung zu tun hat.


Beispiel: Ein Träumer hatte für 10 Franken Zehnermarken und für 20 Franken Zwanzigermarken gestohlen und befand sich vor dem Büro der väterlichen Fabrik. Die Zweiergruppierung mit der Zehn bezeichnete im Traum seine Schwierigkeiten mit den Erwartungen des Vaters, der wünschte, dass er die Traditionen einer angesehenen Familie weiterführen sollte. Obwohl der Träumer innerlich dazu nicht bereit war, nutzte er das Familienvermögen ausgiebig für seinen gehobenen Lebensstil, was die Dreihundert gestohlenen Briefmarken symbolisch zum Ausdruck bringen.
Auch in den Mythen repräsentierten die reproduktiven Organe die lebensspendende Quelle von Fruchtbarkeit und Macht. Moderne Varianten des Kybele Kultes lassen sich in der Selbstkastration in Sektenbewegungen und im Kontext der Transsexualität (Operation) wieder finden. Kulturell sanktionierte Zerstückelungen und Verstümmelungen stellen das Einbinden der Füße dar und die genitale Verstümmelung von Frauen als Ausdruck von Macht, Kontrolle und Unterwerfung. Die Beschneidungsmethoden an jungen Frauen, die Verstümmelung ihres Genitals ist als Ausdruck der Angst vor dem großen Weiblichen (Göttin) und als Angst vor der Hexenhaftigkeit des Weiblichen zu verstehen, das beherrscht werden muss (Vergewaltigung).


'''Literatur:''' Standard; Ifrah, G. (1986): Universalgeschichte der Zahlen
In der Psychotherapie wie auch in der Alchemie ist Zerstückelung ein wichtiges procedere der Diskrimination im Sinne von divisio, separatio, und solutio, einem qualvollen Vorgang von separatio, morteficatio und putreficatio, der zur Bewusstseinserweiterung durch Leiden führt. Das Solve et coagula im alchemistischen Prozess, die Auflösung und Koagulation, das Trennen und Vereinigen löst das Unvollkommene auf und vereinigt es zu einer höheren Form. Psychologisch bedeutet dies die Integration des Selbst durch die Bewusstmachung abgespaltener Inhalte. Bewusstsein entsteht durch Trennung des Ich von seinem unbewussten Grund. Fordham spricht von Deintegration, dem Auseinanderfallen der ursprünglichen Einheit wie in den Schöpfungsmythen und der Reintegration des Getrennten in ein neues Ganzes.


'''Autor:''' B. Fritzsche, E. Heinke
Das psychologische Äquivalent zum Motiv der Zerstückelung ist die Fragmentierung, ein psychisches Auseinanderfallen, eine Form von Dissoziation, die in ihrer extremsten Form psychotische, schizophrene Ausmaße hat. Zerstückelung bedeutet Verlust der Ganzheit des Selbst, Entzweiung der Ich-Selbst-Achse, Abgespaltenheit, Seelenverlust. Fragmentierung ist gleichzeitig ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Bewusstwerdung.
 
Eine intellektuelle Akademikerin, die jahrelang keinen Zugang zu ihrer dionysischen Seite hatte, sondern in verkopften, rigiden zwangshaften angstbesetzten Strukturen gefangen war, träumte viele Varianten des Zerstückelungsmotivs. In ihrem Küchenwaschbecken schwammen zwei abgetrennte Elephantenköpfe, sie war im Theater und sah auf der Bühne einen Mann, der mit einem Messer Schicht für Schicht sein Körperfleisch und seine Organe abschnitt, sie kam in Kontakt mit menschlichen und tierischen Torsos und ihren selbstzerfleischenden Aspekten, begegnete in ihren Imaginationen ihrem abgetrennten, "vergammelten" Herz und ihren eigenen Knochen im Grab. Der eingesperrte Dionysos überwältigte sie mit archaischen Zuständen von Wut und Zerstörungslust, sodass ihre Motivation für den Beginn der Analyse das Vermeiden von Verrückt- und Eingesperrtwerden in Psychiatrie und Gefängnis war.
 
Die Analyse erlebte sie über lange Strecken als einen äußerst leidvollen Prozess des Auseinanderfallens, des Verlustes ihrer Identität, sie fühlte ihr Ich in Stücke zerfallen und hatte große Angst, die Teile nie wieder zusammenbringen zu können. Der lange Individuationsprozess war ein schmerzliches Prozedere des Zusammenfügens von Getrenntem, der Reintegration von Abgespaltenem, der Bewusstmachung des Ungelebten, Schattenhaften. Die Zerstückelung des Komplexes und die wachsende Bewusstheit und Achtsamkeit ließ alte, rigide Fehleinstellungen opfern und sterben, um eine neue, liebende Haltung zu gebären.
 
'''Literatur:''' Standard, C. Kerenyi: Dionysos
 
'''Autor:''' Wirtz, Ursula

Version vom 26. September 2015, 11:37 Uhr

Keyword: Zerstückelung

Links: Alchemie, Axt, Messer, Nigredo, Schamanismus, Solutio, Tod

Definition: Zerstückeln, zerstören, auflösen, trennen, entzweien, auseinanderreißen, lat. Dis. In Dantes göttlicher Komödie ist Dis die Verkörperung des Satans, der die Körper in der Unterwelt in Stücke zerhackt.

Information: Das Zerstückelungsmotiv ist zentraler Bestandteil von Schöpfungsmythen in Babylonien, bei den Azteken, in der nordischen, chinesischen und indianischen Mythologie. Viele Kosmogonien der Welt entstehen aus den zerstückelten Körperteilen eines Tieres oder Riesen, oder einer Gottheit. Bei den Azteken wird die Erdgottheit Coatlicue zerstückelt und ihre beiden Hälften bilden den Himmel und die Erde, ihre Augen und ihr Mund werden zu Höhlen und Quellen. Rituelle Zerstückelung und das anschließende Essen des Zerstückelten gehört zum aztekischen Ritus, es wird der zerstückelte Gottesleib gegessen. In der hinduistischen Rigveda wird der 1000köpfige und 1000füßige Urmensch geopfert und aus seinem Geist entstand der Mond, aus den Augen die Sonne, aus dem Mund das Feuer und aus dem Atem der Wind.

Interpretation: Das Zerstückelungsmotiv ist mit dem Motiv des Opfers verbunden und gehört in den Raum der Todes- und Wiedergeburtssymbolik. Bevor etwas reintegriert und ganzheitlich zusammengefügt werden kann, bedarf es der Zerstörung und Zerstückelung, die Todeserfahrung geht jeder Wiedergeburt voraus, Desintegration ist unumgänglich für Reintegration, wie die Schöpfungsmythen deutlich machen. Im finnischen Epos der Kalevala wird Lemmikäinen zerstückelt und in den Totenfluss geworfen, von seiner Mutter wieder zusammengesetzt und in ihrem Schoß belebt. Der Gott Osiris wird von Set in 14 Teile zerstückelt und in alle Winde zerstreut. Isis sucht nach den Teilen, findet alle bis auf den Phallus und fügt sie liebend wieder zusammen, belebt das Getötete durch Zusammensetzen und empfängt Horus von ihm. Der Phallus des hinduistischen großen Gottes Mahadera wurde von Priesterinnen der Großen Göttin abgeschnitten und in Stücke gehauen. Die Teile kamen in die Erde und brachten eine neue Menschenrasse hervor, die Lingagas (Männer des Lingam).

In der mexikanischen Mythologie schuf die Erlöser-Gottheit Quetzalcoatl neue Menschen, indem er sein Glied abschnitt und das Blut der Herrin des Schlangenschurzes zu trinken gab. Die Gestalt dieser Göttin wird oft dargestellt mit vielen abgeschnittenen Gliedern, die an ihrer Hüfte hängen, z. B. Anath, die Herrscherin über Leben und Tod. Das Zerstückelungsmotiv hat auch Verbindung zu den Kastrationsmythen im Attis-Kybele-Kult. Die Riten der Selbstkastration sind bei den Priestern und Priesterinnen der magna mater, der Großen Mutter ein Teil der Göttinnenverehrung. Während Männer sich den Penis abschnitten und der Göttin opferten, zerstückelten Frauen sich, indem sie eine Brust abtrennten.

Zagreus-Dionysos wird zuerst von den Titanen in Stücke zerrissen und bis auf das Herz verschlungen. Zeus findet das Herz und lässt daraus Dionysos neu erstehen. Zerreißen und Zerstückeln auch durch die Mänaden in orgiastischen, dionysischen Ritualen, " omophagia", in denen das rohe Fleisch der zerstückelten Opfer verschlungen wurde im Gedenken an Dionysos, der auch den Beinamen hat" Fresser des rohen Fleisches". Zum Dionysoskult gehört die Zerstückelung und das Zerfleischen der Opfertiere. Die Tiere verkörpern den von den Titanen zerrissenen Dionysos-Zagreus aus dessen Zerstückelung der Gott Dionysos hervorgeht. Jäger, die Tiere lebend fangen um sie rituell zu opfern und deren rohes Fleisch zu essen, werden im griechischen zagreus genannt. Diese Riten sind Reinszenierungen der Verschlingung von Dionysos und verkörpern symbolisch die mystische Einheit mit dem Gott, die mystische Teilhabe an der göttlichen Potenz, die Integration von Dionysos.

Das Motiv des Opfers, des Leidens und der Zerstückelung und Wiederauferstehung im christlichen Kontext ist der gekreuzigte Jesus. Bei der Kreuzigung findet eine innere Zerstückelung statt, die Knochen zerbrechen, die Bänder zerreißen, die Glieder werden durch die Nägel zerteilt. Die Transformation in der Auferstehung wird im Symbol der Messe als mystische Teilhabe am göttlichen Geist und Wesen durch Einverleibung seines Leibes (Brot) und seines Blutes (Wein) reinszeniert. Auch die Reliquienvereehrung von Heiligen und Märtyrern steht im Kontext einer participation mystique, in denen das Teil für das Ganze steht. Zerstückelte Körperteile verkörpern als Reliquien das Paradox von Tod und Leben, von Vergänglichkeit und ewiger Präsenz, sowohl im christlichen als auch im buddhistischen Kontext.

Zerstückelung als Opfer der Erneuerung wird auch im Motiv des rituellen Königsmordes sichtbar und steht in Zusammenhang mit den Fruchtbarkeitsriten der Großen Mutter, in denen die blutige Zerstückelung des Königs die Fruchtbarkeit der Erde garantierte. Tötung, Opfer und Zerstückelung sind magische Instrumente der Fruchtbarkeit. Der König opfert auch sich selbst, zerstückelt seinen Körper mit einem Messer, schneidet sich seine Glieder ab und tötet sich im rituellen Akt der Erneuerung, z. B. in südindischen alten Riten.

Zerstückelung ist auch ein zentraler Bestandteil der Initiationsriten. Die schamanische Initiation der Medizinmänner kennt Zerstückelung, Leiden und Krankheit als eine Art Vorbedingung, um heilerisch zu wirken. In der Unterwelt wird der Körper der Initianten von den Ahnengeistern oder den Dämonen in Stücke zerhackt und die Teile werden den Krankheitsgeistern zum Fraß vorgeworfen, denn ein Schamane kann nur Krankheiten heilen, die durch Geister bewirkt sind, wenn diese von seinem Fleisch gegessen haben. Die Glieder werden zerteilt, die Knochen gewaschen, die Augen aus den Augenhöhlen herausgerissen in einem Akt heiliger Zerstückelung, der mit großem Leiden verbunden ist. Darnach werden die Teile wieder zusammengesetzt, Krankheit und Tod überwunden.

Die weit verbreitete Initiationszerstückelung steht in allen Riten für die Ganzwerdung durch das Opfer, für Zerstörung und Leiden im Dienste des Werdens und der Heilung. Die Neophyten werden zerstückelt als Vorbedingung für das Einwohnen des reinen Geistes, bei den River-Patwin-Indianern, in Sibirien, auf Malekula und bei den australischen Medizinmännern.

In Märchen ist Zerstückelung als Zerstückelung des Drachen ein häufiges Motiv, aber auch als Abschneiden und verstümmeln: das Mädchen ohne Hände, Aschenputtel, und die Wiederbelebung des Zerstückelten in: Machandelboom, Bruder Lustig, Fitchers Vogel. In den germanischen Sagen häufiges Motiv wiederbelebter zerstückelter Fische, Böcke, Widder, Vögel. Oft fehlt dem zusammengesetzen Zerstückelten ein Glied, was auf die Kastration deutet. Kriminologisch ist auffällig, dass Serienmörder und sexuell motivierte Mörder die Leiche häufig zerstückeln und kastrieren. Moderne Varianten des Dionysoskultes, mit Opferung, rituellem Verzehren, kannibalistischem Einverleiben der zerstückelten Glieder des Opfers, vor laufender Videokamera im Internet. Im Krieg in Vietnam und Ex-Jugoslawien wurden den Feinden die Hoden abgebissen, der Penis abgeschnitten und dem toten Körper in den Mund gesteckt. In diesen demütigenden Kriegspraktiken scheint eine archetypische Dimension auf, die mit Angst, Macht und Zerstörung zu tun hat.

Auch in den Mythen repräsentierten die reproduktiven Organe die lebensspendende Quelle von Fruchtbarkeit und Macht. Moderne Varianten des Kybele Kultes lassen sich in der Selbstkastration in Sektenbewegungen und im Kontext der Transsexualität (Operation) wieder finden. Kulturell sanktionierte Zerstückelungen und Verstümmelungen stellen das Einbinden der Füße dar und die genitale Verstümmelung von Frauen als Ausdruck von Macht, Kontrolle und Unterwerfung. Die Beschneidungsmethoden an jungen Frauen, die Verstümmelung ihres Genitals ist als Ausdruck der Angst vor dem großen Weiblichen (Göttin) und als Angst vor der Hexenhaftigkeit des Weiblichen zu verstehen, das beherrscht werden muss (Vergewaltigung).

In der Psychotherapie wie auch in der Alchemie ist Zerstückelung ein wichtiges procedere der Diskrimination im Sinne von divisio, separatio, und solutio, einem qualvollen Vorgang von separatio, morteficatio und putreficatio, der zur Bewusstseinserweiterung durch Leiden führt. Das Solve et coagula im alchemistischen Prozess, die Auflösung und Koagulation, das Trennen und Vereinigen löst das Unvollkommene auf und vereinigt es zu einer höheren Form. Psychologisch bedeutet dies die Integration des Selbst durch die Bewusstmachung abgespaltener Inhalte. Bewusstsein entsteht durch Trennung des Ich von seinem unbewussten Grund. Fordham spricht von Deintegration, dem Auseinanderfallen der ursprünglichen Einheit wie in den Schöpfungsmythen und der Reintegration des Getrennten in ein neues Ganzes.

Das psychologische Äquivalent zum Motiv der Zerstückelung ist die Fragmentierung, ein psychisches Auseinanderfallen, eine Form von Dissoziation, die in ihrer extremsten Form psychotische, schizophrene Ausmaße hat. Zerstückelung bedeutet Verlust der Ganzheit des Selbst, Entzweiung der Ich-Selbst-Achse, Abgespaltenheit, Seelenverlust. Fragmentierung ist gleichzeitig ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Bewusstwerdung.

Eine intellektuelle Akademikerin, die jahrelang keinen Zugang zu ihrer dionysischen Seite hatte, sondern in verkopften, rigiden zwangshaften angstbesetzten Strukturen gefangen war, träumte viele Varianten des Zerstückelungsmotivs. In ihrem Küchenwaschbecken schwammen zwei abgetrennte Elephantenköpfe, sie war im Theater und sah auf der Bühne einen Mann, der mit einem Messer Schicht für Schicht sein Körperfleisch und seine Organe abschnitt, sie kam in Kontakt mit menschlichen und tierischen Torsos und ihren selbstzerfleischenden Aspekten, begegnete in ihren Imaginationen ihrem abgetrennten, "vergammelten" Herz und ihren eigenen Knochen im Grab. Der eingesperrte Dionysos überwältigte sie mit archaischen Zuständen von Wut und Zerstörungslust, sodass ihre Motivation für den Beginn der Analyse das Vermeiden von Verrückt- und Eingesperrtwerden in Psychiatrie und Gefängnis war.

Die Analyse erlebte sie über lange Strecken als einen äußerst leidvollen Prozess des Auseinanderfallens, des Verlustes ihrer Identität, sie fühlte ihr Ich in Stücke zerfallen und hatte große Angst, die Teile nie wieder zusammenbringen zu können. Der lange Individuationsprozess war ein schmerzliches Prozedere des Zusammenfügens von Getrenntem, der Reintegration von Abgespaltenem, der Bewusstmachung des Ungelebten, Schattenhaften. Die Zerstückelung des Komplexes und die wachsende Bewusstheit und Achtsamkeit ließ alte, rigide Fehleinstellungen opfern und sterben, um eine neue, liebende Haltung zu gebären.

Literatur: Standard, C. Kerenyi: Dionysos

Autor: Wirtz, Ursula