Weisheit

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Keyword: Weisheit

Links: Geist, Logos-Prinzip, Mond, Weibliches Prinzip

Definition: Das mittelhochdeutsche Wort „wîsheit“ bedeutet „Verständigkeit, Erfahrung, Wissen, Gelehrsamkeit und Kunst “. Im Neuhochdeutschen wird es zu „Weisheit“ im Sinne von „einsichtsvoller Klugheit“ und „weisem Rat“.

Information: Das Adjektiv „weise“ meint eigentlich „wissend“, was auch noch mit „sehend, erblickend, merkend“ umschrieben werden und damit unversehens ins Wortfeld von „Schau, Vision“ übergehen kann. So verwundert es nicht, dass im Altenglischen und Altisländischen „ein Weiser“ auch die Bedeutungen von „Prophet“ und „Zauberer“ umfasst. Bei den Germanen galten Aussprüche des Schicksals aus weiblichem Munde als heilig sowie Weissagung und Zauber als vorzugsweise Gabe der Frauen. Im antiken Griechenland wiederum war „Weisheit“ als „Sophia“ ein vermutlich auf Pythagoras zurückgehender Weisheitsbegriff der Philosophie im Sinne von „Wissenschaft, Kundigsein, Beherrschen von Fertigkeiten“ und in vollem Umfang nur den Göttern zugänglich, während der Mensch bloß nach ihr streben und dann „Freund der Sophia “ („philó - sophos“) genannt werden kann. „Weisheit“ hat also zwei Seiten oder Pole und verweist auf logisch – intellektuelle wie auf intuitiv – visionäre Fähigkeiten.

Interpretation: Erich Neumann geht diesen Zusammenhängen aus der Perspektive seines Aufsatzes „Über den Mond und das matriarchale Bewusstsein“ von 1950 etymologisch auf den Grund. Nach ihm hat die ursprüngliche Sanskrit – Wurzel „mati-h“ zwei polare Bedeutungen, welche sich einerseits im aktiven Ausbruch als feuriger Geist („manas“) ein sich Offenbarendes, das zur Wahrsagung, zum Denken und Lügen, aber auch zur Dichtung führt, andererseits eine maßvolle Haltung („mâs“), die meditierend, träumend, abwartend, zögernd und verweilend, mit Erinnerung und Lernen verbunden ist und in Maß, Klugheit und Sinn mündet. Im alten Matriarchat gehörten beide Seiten dieser an Geist, Seele und Körper gleichermaßen gebundenen „Weisheit“ noch ganzheitlich zusammen. Das beginnende Patriarchat spaltete diese zwei Pole nach und nach voneinander ab, ließ nur die männliche „Geist“ – Wurzel im öffentlichen Bewusstsein herrschen und wertete die weibliche „Mond“ – Wurzel als zweitrangig ab.

Dieser zweite Aspekt des Geist –Selbst ist auf das Lebendige bezogen in seiner unauflöslichen und paradoxen Einheit von Leben und Tod, Natur und Geist, Zeit- und Schicksalsordnung sowie von Wachstum, Sterben und Todesüberwindung. Diese Einheit ist Weisheit des Unbewussten, der Instinkte, des organischen Lebens, der Erde, des Bauern, der Frau, der Bezogenheit und des damit verbundenen Erosprinzips. Ihre Paradoxie stellt die Gegensätze nicht in der klaren Trennung des patriarchalen Bewusstseins mit einem „entweder – oder“ aus- und gegeneinander, sondern verbindet sie in einem „sowohl – als auch“ miteinander. Die Weisheit des Weiblichen bleibt eingebettet in das kosmisch – psychische System der sich wandelnden Mächte und ist unspekulativ, lebens- und naturnah, dem Schicksal und der vitalen Wirklichkeit verbunden. Dabei nimmt diese Sophia im Zusammenhang mit der Mond -Symbolik und der Haltung des Abwartens, Annehmens und Reifens alles in ihre Totalität hinein und verwandelt sich mit ihm. Immer geht es ihr um Ganzheit, Gestaltung und Realisierung des Schöpferischen aus der inneren Mitte heraus. In „Die Große Mutter “ von 1956 sieht Neumann im Unbewussten der gebärenden und nährenden, schützenden und wandelnden weiblichen Kraft der Tiefe eine Weisheit wirken, die der logisch – analytischen Rationalität des (Archetyp, Bios-Prinzip, Eros-Prinzip, Gottesbild, Hexe, Logos-Prinzip) Tagesbewusstseins unendlich überlegen ist und die, als Ursprung von Vision und Symbol, Ritual und Gesetz, Dichtung und Wahrheitsschau, erlösend und richtungsgebend in das menschliche Leben eingreift. Dieser weiblich – mütterliche Geistwandlungsarchetyp ist kein abstrakt „interesseloses Wissen“, sondern eine Weisheit liebender Bezogenheit. Die Sophia von dieser Art repräsentiert eine lebendig anwesende und nahe, eine behütende und immer gegenwärtige, eine dauernd anrufbare und eingreifbereite Gottheit, die als spirituelle Macht liebend und rettend erscheint und deren strömendes Herz Weisheit und Nahrung für ein Leben des Geistes und der Wandlung ist.

In der patriarchalen Entwicklung des Abendlandes wurde die weibliche Weisheitsfigur der Göttin entthront und unterdrückt. Nur heimlich fristete sie meist auf ketzerischen und revolutionären Nebenwegen ihr Leben weiter, war aber dabei von so archetypischer Kraft und unzerstörbarer Vitalität, dass sie sich bis heute immer wieder einmal in der Geschichte unserer Kultur zeigen und durchsetzen konnte.

Hinter der „Mond“-Wurzel steht die ganz in ihrer Mitte ruhende Sophia, die voller liebender, warmherziger Bezogenheit ist und damit das Erosprinzip mit nährendem Leben füllt. Sie sucht aus dieser inneren Fülle sich schenkender, strömender Hingabe ganz organisch die Verbindung zur „Geist“-Wurzel und bietet ihr vom Unbewussten aus liebevoll die Vereinigung an, die aber bis jetzt vom patriarchalen Bewusstsein hartnäckig verweigert wurde. Doch Sophia hat nichts mehr zu verlieren und lässt von ihrem Ruf nach Erhörung nicht ab, den die Tiefenpsychologie von C. G. Jung und die feministische Matriarchatsforschung in der Moderne jeweils auf ihre ganz spezifischen Weisen wieder aufgegriffen und erhört haben, und in die Wirklichkeit umzusetzen versuchen. So wird von unterschiedlichen Ansätzen her das Wagnis unternommen, Pallas Athene in der Seele heutiger Frauen und Männer von ihrer Abspaltung zu befreien und durch Integration zu erlösen.

Literatur: Standard

Autor: Schröder, Friedrich